Die Überarbeitung des Reviews wurde überraschend abgebrochen
Cochrane hat Ende 2024 überraschend die Arbeit an der Überarbeitung seines Reviews zur Bewegungstherapie bei ME/CFS eingestellt. Die mit der Überarbeitung betraute unabhängige Beratergruppe wurde erst kurz vor der Veröffentlichung der „neuen“ Fassung informiert – ein Schritt, der in der Fachwelt für Unverständnis sorgte. Statt einer wissenschaftlich fundierten Neubewertung wurde das alte, vielfach kritisierte Review von 2019 lediglich redaktionell angepasst und auf 2024 umdatiert. Dieses Review beruht auf veralteten Daten und stützt sich auf methodisch fragwürdige Studien, die Bewegungstherapien wie GET empfehlen – Maßnahmen, die inzwischen nachweislich potenziell schädlich für ME/CFS-Betroffene sein können. Fachleute und Betroffenenorganisationen kritisieren schwere wissenschaftliche Mängel und warnen vor den Folgen einer solchen Veröffentlichung.
AI-Zusammenfassung
Hintergrund und Anlass:
Der Artikel beleuchtet kritisch die Entscheidung der Cochrane Collaboration, eine geplante vollständige Überarbeitung ihres systematischen Reviews zu sogenannten Bewegungstherapien (insbesondere Graded Exercise Therapy – GET) bei ME/CFS nicht wie ursprünglich angekündigt durchzuführen. Stattdessen wurde im Dezember 2024 eine lediglich leicht aktualisierte Version des bestehenden Reviews veröffentlicht, die aus Sicht von Patient:innenorganisationen, Fachärzt:innen und Wissenschaftler:innen massive Probleme aufweist.
Zentrale Kritikpunkte:
Die neue Version des Cochrane-Reviews basiert weiterhin auf methodisch veralteten und wissenschaftlich fragwürdigen Studien, von denen viele auf veralteten Diagnosekriterien beruhen, die zentrale Symptome wie die belastungsinduzierte Zustandsverschlechterung (Post-Exertional Malaise, PEM) gar nicht erfassen. PEM gilt heute jedoch als ein Leitsymptom von ME/CFS und ist durch eine Verschlechterung der Symptome nach minimaler körperlicher oder geistiger Belastung gekennzeichnet – oft mit stunden- oder tagelanger Verzögerung und gravierenden Auswirkungen.
In den Studien, die dem Review zugrunde liegen, wurde PEM entweder gar nicht untersucht oder gezielt ausgeschlossen, sodass die Datenlage die tatsächlichen Risiken von Bewegungstherapien nicht abbildet. Trotzdem kommt der Review zu dem Schluss, dass GET eine „wirksame“ Behandlung sein könnte – mit minimalem Schadenspotenzial. Dies steht im krassen Widerspruch zu den Erfahrungen vieler Betroffener, aber auch zu aktuellen medizinischen Leitlinien (z. B. der britischen NICE-Leitlinie von 2021), die vor GET ausdrücklich warnen.
Bedeutung und Folgen:
Die Entscheidung von Cochrane wird deshalb von vielen Seiten als wissenschaftlicher und ethischer Rückschritt gewertet. Die Veröffentlichung eines Reviews mit scheinbar hoher wissenschaftlicher Autorität kann weltweit Einfluss auf medizinische Leitlinien, Gutachten, Versicherungsentscheidungen und die Versorgung von Patient:innen haben. In Ländern ohne eigene ME/CFS-Leitlinien könnten Empfehlungen wie GET durch diesen Review legitimiert und somit erneut zur Standardbehandlung erklärt werden – mit potenziell schwerwiegenden Folgen für Erkrankte.
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, andere internationale Patientenvertretungen sowie zahlreiche Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen fordern deshalb eine vollständige, transparente und methodisch zeitgemäße Neubewertung der Evidenzlage. Diese müsse nicht nur die aktuelle internationale Forschung berücksichtigen, sondern auch Patient:innenerfahrungen ernst nehmen – insbesondere im Hinblick auf mögliche Schäden durch Bewegungstherapie.
Verpasste Chance für Fortschritt:
Ursprünglich hatte Cochrane 2019 selbst eingeräumt, dass der alte Review überarbeitet werden müsse. Eine begonnene methodisch saubere Revision, bei der auch Betroffenenorganisationen eingebunden waren, wurde jedoch ohne klare Begründung gestoppt. Die nun erschienene Fassung ignoriert nicht nur neue Erkenntnisse, sondern widerspricht auch Cochrane-eigenen Qualitätsstandards. Der Artikel spricht daher von einer verpassten Chance, Vertrauen in evidenzbasierte Medizin zu stärken und einen dringend nötigen Wandel in der Behandlung von ME/CFS einzuleiten.
Fazit:
Die Entscheidung von Cochrane birgt laut dem Artikel erhebliches Schadenspotenzial – für Betroffene, die Gefahr laufen, erneut falsche oder sogar schädliche Behandlungsansätze zu erhalten, aber auch für das Vertrauen in wissenschaftliche Institutionen. Die Autor:innen fordern eine klare Abkehr von überholten Paradigmen und eine verantwortungsvolle, wissenschaftlich fundierte Neubewertung der Therapielandschaft bei ME/CFS.