Die Forschungscommunity wächst: Im Mai trafen sich internationale Wissenschaftler in Berlin zur ME/CFS-Konferenz
Das Verständnis für postinfektiöse Erkrankungen wie ME/CFS wächst, weltweit laufen inzwischen viele Therapiestudien. Ein Durchbruch allerdings fehlt noch.
AI-Zusammenfassung:
1. Politischer Rückenwind für die Forschung
Die neue Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) kündigte an, die Erforschung von Long Covid und ME/CFS weiter zu fördern. Sie will Betroffenen nicht nur Sichtbarkeit geben, sondern auch Hoffnung auf Heilung machen. Gemeinsam mit Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) will sie eng zusammenarbeiten.
2. Hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten
Eine Studie der ME/CFS Research Foundation und von Risklayer beziffert die Zahl der Long-Covid-Betroffenen in Deutschland auf rund 870.000, ME/CFS-Erkrankte auf 650.000. Die volkswirtschaftlichen Kosten im Jahr 2024 lagen demnach bei über 63 Milliarden Euro, seit Pandemiebeginn bei über 250 Milliarden Euro.
3. Komplexe Symptome – unklare Mechanismen
Long Covid ist ein Sammelbegriff für viele unterschiedliche Langzeitfolgen einer Corona-Infektion – von neurologischen über kardiologische bis hin zu muskulären Beschwerden. Die genauen biologischen Ursachen sind weiterhin ungeklärt, ein spezifischer Biomarker fehlt, was Diagnosen erschwert.
4. Neue Begriffsbildung: Von Long Covid zu PAIS
Forschende setzen zunehmend auf den übergeordneten Begriff PAIS („post-akutes Infektionssyndrom“), der auch postvirale Zustände nach anderen Infektionen (z. B. EBV, Influenza) einschließt. Die Pandemie hat ME/CFS stärker sichtbar gemacht, das schon seit Jahrzehnten existiert, aber häufig verkannt oder psychologisiert wurde.
5. Frühe Fehler in der Krankheitswahrnehmung
Ein Beispiel für frühe Missverständnisse ist der Krankheitsausbruch 1955 im Londoner Royal Free Hospital. Die Symptome wurden damals als „Massenhysterie“ abgetan – eine Einschätzung, die mangels medizinischen Wissens über das Immunsystem und postinfektiöse Prozesse erfolgte. Bis heute erleben Patient:innen die Abwertung ihrer Symptome als psychisch verursacht.
6. Frauen häufiger betroffen, biologische Ursachen im Fokus
Frauen erkranken etwa doppelt so häufig an postinfektiösen Erkrankungen. Die aktuelle Forschung sieht zunehmend organische Ursachen, etwa chronische Entzündungen oder Autoimmunreaktionen. Die deutsche Epiloc-Studie zeigt, dass sich Symptome nach mehreren Monaten häufig chronifizieren. Hinweise auf persistierende Viren konnten nicht bestätigt werden, ein Einfluss in der Frühphase der Erkrankung bleibt aber möglich.
7. Bildgebung und Spike-Proteine
Forschende vom Helmholtz-Institut zeigten mithilfe neuartiger Mikroskopieverfahren, dass Spike-Proteine von SARS-CoV-2 noch Jahre nach der Infektion in Hirnhäuten und Knochenmark nachweisbar sind. Diese korrelieren mit Entzündungen – eine mögliche Ursache neurologischer Long-Covid-Symptome.
8. Autoantikörper im Verdacht
Tierexperimente mit Autoantikörpern aus Long-Covid-Patient:innen führten bei Mäusen zu ähnlichen Symptomen. Autoimmunreaktionen könnten Mitochondrien und den muskulären Energiestoffwechsel stören. Dies würde das ME/CFS-Leitsymptom erklären:
Post-Exertional Malaise (PEM) – eine oft verzögerte und anhaltende Verschlechterung nach Belastung.
9. PEM und Energiestoffwechsel
Eine Studie von Rob Wüst zeigte, dass Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene nicht einfach deconditioniert sind (wie nach langer Bettlägerigkeit), sondern echte zelluläre Funktionsstörungen aufweisen, vor allem in den Mitochondrien. Daher hilft körperliches Training, wie bei Depressionen, nicht, sondern schadet oft.
10. Mitochondrien-Hypothese von Wirth und Scheibenbogen
Die Forschenden vermuten eine Störung des Natrium-Calcium-Austauschs in den Muskeln, die zu einer sich selbst verstärkenden Schädigung der Mitochondrien führt. COVID-19 könnte ein möglicher Auslöser sein. Diese Hypothese könnte das Krankheitsbild erstmals umfassend erklären – ein endgültiger Nachweis steht jedoch noch aus.
11. Therapiestudien: Fortschritte, aber kein Durchbruch
Trotz wachsender Forschung fehlt der große therapeutische Durchbruch. Viele Behandlungsansätze (etwa antivirale Medikamente, Plasmapherese oder das Medikament BC 007) haben in klinischen Studien nicht überzeugt.
Hoffnung setzen Forschende auf:
- Immunadsorption zur Entfernung von Autoantikörpern
- B-Zell-Therapien, um die Antikörperproduktion zu hemmen
- Hyperbare Sauerstofftherapie (HBOT), die kognitive und energetische Symptome lindern könnte
Ergebnisse wichtiger Studien werden bis Ende 2026 erwartet.
12. Versorgungslage und neue Versorgungsansätze
Es fehlen spezialisierte Ärzt:innen, besonders für Hausbesuche und Telemedizin. Für Kinder mit postinfektiösen Syndromen sollen 20 Zentren entstehen, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium mit über 40 Millionen Euro. Auch „Off-Label“-Medikamente sollen künftig vermehrt eingesetzt werden – trotz fehlender Zulassung.
13. Wo bleibt die Pharmaindustrie?
Führende Wissenschaftler:innen beklagen die Zurückhaltung der Pharmaindustrie. Sie fordern ein stärkeres Engagement, das aber vermutlich erst bei Vorhandensein eines klaren Biomarkers einsetzen wird. Dennoch zeigt sich die Forschungsgemeinschaft optimistisch. Carmen Scheibenbogen betont: „Ich bin mir absolut sicher, dass wir eine heilende Therapie finden.“
Fazit
- Die Forschung zu postviralen Syndromen wie Long Covid und ME/CFS ist deutlich vorangeschritten, aber noch ohne klinischen Durchbruch.
- Die Ursachen werden immer besser verstanden, insbesondere die Rolle von Autoimmunität und gestörtem Energiestoffwechsel.
- Neue Therapien sind in der Entwicklung, aber noch nicht einsatzbereit.
- Es gibt massive Versorgungslücken, politischer Wille und neue Fördermittel sollen helfen.
- Die Erkrankungen verursachen hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten – und viel Leid für Betroffene.