Silja

Siljas Leben
Siljas Leben war bunt. Sie konnte sich für so viele Dinge begeistern.
Ich überlege mal, was ihr wohl selbst wichtig gewesen wäre:
Silja war unendlich interessiert an Menschen. Daran, wie verschiedene Personen ticken und ihr Leben gestalten. Sie brachte dem eine sehr aufgeweckte und humorvolle Neugier entgegen. Wer mit Silja über sich selbst sprach, fühlte sich gesehen – manchmal einfach validiert in dem, was war, und manchmal zu Veränderung inspiriert, weil sie ein Stück weiter oder tiefer sah, als man selbst. Das war eine der Qualitäten, die sie so erfolgreich in ihrem Beruf machten.


Silja war 18 Jahre als Praktikerin für Körperarbeit tätig, z.T. in eigener Praxis und an verschiedenen Orten in Berlin und der Welt, und überall gab es mehr Menschen, die ihre Sessions wollten, als sie aufnehmen konnte. Nach einer Phase großer Begeisterung darüber wurde das später eher zum Problem. Silja liebte ihren Job. Nichts ist ihr so schwergefallen, aufzugeben, wie das Arbeiten mit Menschen. Siljas Sitzungen waren „Big Magic“: Sie unterstützte Menschen bei lebensverändernden Transformationsprozessen in die verschiedensten Richtungen, und war fähig, sich unheimlich genau auf ihr Gegenüber einzustellen. In Siljas Sitzungen gab es tiefe Einsichten, manchmal Tränen oder Flüche, immer wieder überraschend Humor und Albernheit – und den wichtigen, gangbaren nächsten Schritt, den ihre Klient*innen sich wünschten. Ihre Arbeit bestand für Silja aus Begegnungen, in denen sie all ihre Intuition, Erfahrung, Neugier und ihren Drive zu individueller, authentischer Entwicklung einbringen konnte. Eine Art großer zwischenmenschlicher Abenteuerspielplatz – auf dem sie, um im Bild zu bleiben, natürlich auch die Anleiterin war, die aufpasste, dass man nicht vom zu hohen Klettergerüst fiel…
Silja pflegte ihre Freundschaften. Sie hatte sehr verschiedene Freund*innen und schaffte es bis zum Schluss, mit vielen in Kontakt zu bleiben, auch wenn am Ende manchmal nicht mehr möglich war als das Schicken eines Emojis. Es gab die Menschen, die sie seit der Schulzeit kannte, es gab bis in die letzten Monate neue Freundschaften (viele online), es gab die Kinder ihrere Freund*innen, mit denen sie einen besonderen Draht hatte. Mit jedem und jeder Einzelnen teilte sie eine etwas eigene Welt, gab es eigenen Themen und eigenen Nähe. – und am Ende äußerte Silja den Wunsch, ihre Freund*innen möchten sich gegenseitig helfen, und sie wolle ein Bindeglied zwischen ihnen sein – ein Wunsch, der sich bis heute erfüllt hat und weiterwirkt.
Silja interessierte sich für die Welt. Verschiedene Orte, Natur, Leben woanders. In ihrer gesunden Zeit reiste sie viel, und sie fand überall Dinge, die sie toll fand, oder Orte, wo sie reingepasst hätte und bleiben hätte wollen. Sie konnte sich sozusagen ständig alternative Leben vorstellen.
Wenn sie feierte, dann richtig, und eine Zeitlang wurde das fast zum Lebensinhalt. Mit Anfang 20 hätte sie fast in der Berliner Theaterlandschaft in der Dramaturgie Fuß gefasst. Eine wissenschaftliche Karriere als Soziologin hätte sie sich auch vorstellen können.


Irgendwann später reiste sie durch die Welt und unterstützte Klient*innen, die in verschiedenen künstlerischen Projekten sehr erfolgreich waren. Nebenbei organisierte sie einen Berufsverband und schaffte einen lebendigen Organismus, wo viele Menschen Vorschriften und Formalitäten gesehen hätten. Wieder ein paar Jahre später fand sie die Bestattung ihrer Großmutter unachtsam gestaltet und überlegte, ein Bestattungshaus zu übernehmen. Als sie nicht mehr körperlich arbeiten konnte, wandte sie sich dem Schreiben zu und bis heute habe ich Ideen zu einer Serie herumliegen, die bestimmt super funktionieren würden…
Silja interessierte sich für alle möglichen Themen. Politik, Beziehungen, Kultur … Sie hatte Phasen, wo sie tief in Dinge eintauchte und es war faszinierend, mit ihr über ihre Ansichten und Einsichten zu sprechen. Genauso tief wie ins äußere Leben tauchte sie ins Innere ein. Machte Kurse, Workshops, Retreats, vertiefte ihr persönliches Lernen unter Einsatz aller Ressourcen, schnupperte in verschiedene Methoden hinein und fand letztlich ihre Weg, einen, der sie in den letzten Jahren mit ihrem Leben zufrieden machte, auch wenn es nicht immer so ausgesehen hattte.
Silja lebte alle Zeiten und alle Lernschritte ganz aus. Sie lebte jahrelang allein und fand Wege, genau darin glücklich zu sein. Sie ging nach Berlin, als die Stadt ihre interessanteste Zeit hatte, und wurde Teil der Dynamik dieser Jahre. Sie beschäftigte sich immer wieder mit ihren Wurzeln und suchte nach einer Zeit des unabhängigen Erforschens wieder gute Verbindungen zu Vergangenheit. Und sie lebte Beziehungen als ihr größtes Lernfeld. Mit jemand sein und sich nicht zu verlieren war vielleicht die Herausforderung, die sie im Leben am meisten beschäftigt hat, und davon können eine Menge Menschen in ihrem Umfeld ein Lied singen, die mit diesen Polaritäten umgehen mussten… Schließlich, auch durch viel eigene innere Arbeit, fand sie sich aber an einer Stelle, wo sie eingebunden war in verläßliche Freundschaften, inspirierende Verbindungen und eine Paarbeziehung, die sie zutiefst glücklich machte.
Silja scheint fast systematisch verschiedene Faszetten des Menschseins erkundet zu haben. Sie begegnete allen Themen in ihrem Leben mit einer Intensität, die sich im Nachhinein ein bisschen wie die Disziplin oder Achtsamkeit einer Person anfühlt, die eine Sportart, eine religiöse Praxis oder ein Musikinstrument in aller Tiefe durchdringt und meistert. Der Inhalt, auf den Silja sich konzentriert hat, war nicht ein Lebensbereich, sondern das Leben selbst. Diese verrückte Reise in einer so inspirierenden und verrückten Welt.
Sie war am Ende froh, diese Welt zu verlassen. Aufgrund ihrer Erkrankung, aber auch, weil sie sich fragte, wie sie die sich schon abzeichnenden weltpolitischen Umschwünge aushalten würde, da sie allles immer unheimlich tief mitgefühlt hat – die Menschen um sich herum sowie die großen kollektiven Ereignisse. Dieses intensive Fühlen war ihre Superpower, und in Kombination mit ME/CFS ihr Kryptonite, die Archillesferse, die soviel unmöglich gemacht hat. Sie war der Grund, warum jeder Reiz weh tat – aber auch der Grund, warum sie mit 42 Jahren sagen konnte, sie hätte alles gehabt im Leben und jeden Moment genossen.
Ich freu mich für sie, dass sie das so sehen konnte und versuche, von dieser Genussfähigkeit zu lernen.

Siljas Erkrankungsverlauf
Der Verlauf von Siljas Erkrankung ist einerseits sehr typisch: Jahrelange verschiedene Symptome, die niemand in Verbindung gebracht hat – ein gutartiger Hypophysentumor, viele Bänder- und Sehnenrisse, immer mal wieder langanhaltende Infekte, Schmerzen im Bewegungsapparat, die sich durch die minimalen Bandscheibenvorfälle eigentlich nicht erklären ließen.
Irgendwann summierten sich die Belastungen aber so, dass dem weiter nachgegangen wurde. Silja ließ nicht locker – und war privat krankenversichert, auch das ist ein wichtiger Teil einer Krankengeschichte, in der Behandelnde zwar nicht helfen konnten, wo es aber relativ weniger medical gaslighting und gesundheitsgefährdende Maßnahmen und Unterlassungen gibt, als in vielen anderen. Im Grunde zeigt Siljas Geschichte, was in unserem Gesundheitssystem im besten Falle möglich ist für Menschen mit ME – und das allein ist schockierend.
Silja bekam die Diagnose „ME/CFS circa fünf Jahre vor ihrem Tod und hatte Zugang zu dem, was damals zur Verfügung stand zur Symptommilderung. Was noch nicht klar war, und sicher zur weiteren Verschlechterung ihres Zustands beigetragen hat, war das Wissen um PEM und Pacing. Erst etwa ein Jahr vor ihrem Tod wusste sie, dass es Adrenalinschübe gibt, oder dass sie Crashes vermieden musste.
Dementsprechend verschlechterte sich Siljas Zustand immer weiter. Neben einer Mastzellproblematik schien das vegetative Nervensystem sehr beteiligt, sie entwickelte POTS und chronische Blasen- und Niereninfekte.
Ihre Blutbilder zeigten immer mal kleine Untegelmäßigkeiten, aber keiner der angesetzten Hebel (Nahrungsergänzungsmittel, Ernährungsumstellungen etc) zeigte eine klare Wirkung. Auch später, als es um die Entscheidung für die Freitodbegleitung ging, erwähnte Silja nochmal, dass ihre Werte nicht so typisch für postakute Infektionssyndrome sein und dass sie sich von eventuellen Entwicklungen für Menschen mit PostCovid vielleicht keine Besserung versprechen könne.
Ihe Hypothese nach vielen Jahren war, dass die Kopfgelenke sehr wichtig waren. Sie hatte auch ihre größten Crashes immer nach Erschütterungen dort – Autofahren, Haarewaschen im Bett usw. Wenn sie ein bißchen später erkrankt wäre, oder wenn die Medizin etwas weiter gewesen wäre, hätte sie vielleicht entsprechende OPs in Erwägung gezogen. In Wirklichkeit war das Timing aber so, dass sie schon das zweite MRT zur Diagnostik nicht mehr geschafft hat. Ihre Krankheit schritt einfach schneller fort, als zu dieser Zeit Hilfe zu organisieren war.
Siljas Abschiedsbrief
Dieser Brief von Silja war die Trauerrede bei ihrer Beerdigung.
Wenn du, geliebter Mensch, dies liest, habe ich mich schon auf den Weg gemacht.
So schwer dies für mich ist, es wird mir nicht gelingen, dich zu trösten oder dir den Schmerz zu nehmen; nicht heute, nicht morgen und vielleicht nicht für eine längere Zeit. Die Zeit, die dich erwartet, wird dir vieles abverlangen.
Ich weiß, dich erwartet eine Zeit, die in dein Herz einfahren wird wie der Grand Canyon in die Landschaft. Eine Zeit mit großem, rohem, manchmal bestimmt auch unaussprechlichem Schmerz.
Ich bin bei dir. Werde es immer sein.
Das, was dir vielleicht helfen kann, ist, dass du mir ein unglaubliches Geschenk machst. Dass ich frei sein darf zu gehen, anstatt nicht mehr ich zu sein.
Du begnadigst mich von einem Leben, das keines mehr war, und du ehrst mich und mein Leben genug, dass wir es enden lassen können, dann, wenn ich es noch unendlich wertschätzen kann.
Ich bin glücklich mit meinem Leben, ich habe eine wunderbare, liebevolle Familie, die besten Freunde, die man sich wünschen kann und ich habe die große Liebe erleben dürfen.
Ich bin in tiefem Frieden mit allem, was ist. Ich gehe als zufriedener Mensch. Mit einem erlösten Lächeln auf den Lippen.
So will ich gehen dürfen. Mit dem Wissen, mir und euch Jahre voller unaushaltbarer Qualen erspart zu haben. Mit dem Wissen, dass ihr und ich mein Leben zu sehr ehrt, um es zu etwas werden zu lassen, was kein Leben mehr ist.
Ich danke euch, dass ihr mir das ermöglicht und ich hoffe zutiefst, dass ihr Trost findet, wenn ihr mich vermisst.
Trost darin, dass ich ein Leben hatte, das ich bis zum letzten Atemzug geliebt habe.
Trost darin, mich gehen gelassen zu haben, wie ich es wollte und konnte.
Trost darin, dass ich immer, immer, immer da sein werde, auf eine andere Art.
Und vor allem: Trost im Leben. Trost in all den wunderbaren Dingen, die wahrscheinlich niemand mehr zu schätzen wissen könnte als ich. Im Geschmack von köstlichem Wein, darin, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen, zu gehen. Ein Spaziergang, der so lang ist wie du willst. Mit einem geliebten Menschen sprechen, lesen, Musik hören, tanzen, gute Filme gucken.
Die Welt hat so, so viel zu bieten.
Es ist und war nie selbstverständlich für dich, diese Dinge erleben zu dürfen. Und vielleicht wird es das jetzt noch weniger sein.
Hilf dir selbst durch diesen Abschied. Mit Therapie, Freunden, dir so viel Zeit zu geben, wie du brauchst, Urlaub. Helft einander. Bittet um Hilfe. Darauf möchte ich mich so gerne verlassen können, dass ihr euch selbst und einander so guttun werdet, wie möglich, in der Zeit, die jetzt für euch kommt.
Und vor allem, schätzt die kleinen Dinge. Jeden Tag. Und vor allem, wenn ihr trauert. Lasst die Tränen laufen, solange sie fließen mögen; nicht länger, nicht kürzer.
Und dann macht etwas Schönes, etwas, was das Leben für euch bereithält und ermöglicht.
Trinkt einen schönen Wein, macht Musik an und tanzt. Allein oder zu zweit oder mit noch mehreren. Vergrabt und versteckt euch nicht in eurer Trauer, teilt sie.
Und feiert das Leben bitte für mich, indem ihr es genießt, immer dann, wenn es euch möglich ist.
Ich liebe euch von Herzen. Ihr habt mir so ein schönes Leben bereitet bis zum allerletzten Moment.
Seid gut zu euch und einander.
In Liebe und tiefer Zufriedenheit.
„Liebe Silja,…
Meine Schwester, eine unerforschte Krankheit und ein Tod, der das Leben ehrt.“
Das ist das Buch, das Siljas Schwester Birte über ihre letzte gemeinsame Zeit, und dann über Birtes Trauer und Weiterleben geschrieben hat. Es erzählt von schwerster ME, und dem Versuch, trotzdem Verbindung zu leben und Abschied zu gestalten. Von all den schweren und wichtigen und auch schönen Momenten – und es kommt mit einer dicken Triggerwarnung und eignet sich nur für Betroffene, wenn sie sich sicher jetzt mit diesen Themen auseinandersetzen wollen.
Birte engagiert sich seit Siljas Tod für die Sichtbarkeit der Erkrankung ME/CFS, und speziell der schwerer Betroffenen. Ihre verschiedenen Aktivitäten dazu findest Du hier oder unter „Liebe Silja“ auf social media.
Silja in den Medien
Es gibt mittlerweile einige Medien, die Teile von Siljas Geschichte veröffentlicht haben. Oft, aber nicht immer, geht es dabei um Aufklärung zu ME/CFS.
Der Tagesspiegel schrieb einen tollen Nachruf, in dem Siljas Geschichte und Persönlichkeit einfühlsam porträtiert wurden.
In der BZ (und anderen Zeitungen) erschien ein sehr schöner Bericht über die Lesung von „Liebe Silja,…“ vor Abgeordeneten des Deutschen Bundestags.
Im SWR Nachtcafé habe ich (Birte) einen Teil unserer Geschichte erzählen dürfen 🙂
Und in dieser Episode das PlotHouse-Podcasts wird Siljas Erkrankung und Sterben neben den Schicksalen einiger anderer Betroffener thematisiert (definitiv mit Triggerwarnung!).