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Als die Pandemie begann, bevor die ganze Welt ein gemeinsames Leid erlebt hat, hatte ich ein kleines, ganz persönliches Leid. Ich hatte gerade festgestellt, dass ich zum zweiten Mal schwanger war, als die Schwangerschaft plötzlich endete. Ich lag Anfang Februar 2020 auf dem Boden bei einem alternativen Psychotherapeuten und habe mit mehreren anderen Patient*innen eine mehrstündigen Atemübung mitgemacht. Wir lagen und atmeten zusammen. Ich lag und blutete und weinte. Ich hatte nicht geahnt, wie bedrohlich der Atem der anderen bald werden würde.

März 2020 fuhr ich mit meinem Mann und Kind zu meinen Schwiegereltern, um ein weiteres Gewächshaus für ihre Gärtnerei mit aufzubauen. Als der Lockdown kam, sind wir einfach in Mecklenburg-Vorpommern geblieben. Ich hörte von Freundinnen mit Kindern in Berlin, was für eine furchtbare Zeit es gewesen war. Vor Angst in der Wohnung eingesperrt, mit Kindern die wegen Bewegungsmangel durchdrehten. Viele Familien, die es sich leisten konnten, sind in der Zeit aus Berlin weggezogen.

Ich habe viel überlegt, ob es Sinn macht in einer Pandemie noch ein Kind zu kriegen. Schlussendlich war ich sehr naiv und glaubte die Pandemie wäre vorbei, bevor mein Kind geboren werde würde. Zudem finde ich es einen radikalen Akt der Hoffnung, trotz allem Kinder in die Welt zu setzen. Zum Teil egozentrisch und zum anderen Teil selbstlos, seine Zeit und Kraft zu opfern, damit die Menschheit weitergehen kann. Das Geburtshaus, wo mein zweites Kind zur Welt kam, hatte das Motto von Martin Luther: “Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.”

Als ich Dezember 2020 hochschwanger war, kam der Opa meines Mannes für eine kleine OP ins Krankenhaus. Er hatte sich dort mit Covid angesteckt und ist daran gestorben. Er war der erste, den ich persönlich kannte, der an Covid gestorben war. Ich war wütend, dass er im Krankenhaus nicht vor Infektion geschützt wurde. Das war eine Vorschau in die heutige Zeit, in der kaum Mediziner*innen Masken tragen, trotz hoher Inzidenzen. Das vermittelt den Eindruck, dass das Leben von Vulnerablen nicht beschützenswert sei.

November 2021 habe ich mich wieder vorsichtig an ein “normales Leben” herangetastet. Mit Impungen und Schnelltests, dachte ich, dass das Risiko sich anzustecken sehr gering sei. Ich habe mich dann von einem Gast in meiner Wohnung angesteckt, welcher negativ getestet und symptomfrei war. Als ich krank wurde habe ich eine Brustentzündung entwickelt und dachte, dass die Fatigue nur davon käme. Ich habe mich täglich getestet und erst am dritten Tag der Symptomatik war mein Test positiv. Ich wollte ein schnelles PCR Ergebnis, um die Infektion zu bestätigen. Ich dachte, nach eineinhalb Jahren Pandemie wäre es leicht, eine Möglichkeit zu finden. Die offizielle Seite war überhaupt keine Hilfe und beim googlen hatte sich herausgestellt, das der Flughafen der einzige Ort war, an dem man einen PCR Test machen könne und am gleichen Tag die Ergebnisse erhalten würde. Das war mir ein Anliegen, weil ich entscheiden musste, ob ich mich von meiner Familie isolieren sollte. Ich habe mein neun Monate altes Kind noch gestillt, also war das keine einfache Entscheidung. Wir sind zu viert in einem Mietwagen zum Flughafen gefahren, ich mit FFP2 Maske und mit offenem Fenster. Dies war umständlich, aber die beste Möglichkeit, andere zu schützen. (Mein Führerschein ist in Deutschland nicht gültig.)

Als das positive Ergebnis kam, stellte ich mich auf eine lange Isolation von meiner Familie ein. Außer zum Stillen mit Maske, hatte ich keinen Kontakt mit meinem Mann oder meinen Kindern. Jedes Mal als ich mein Baby nach dem Stillen verlassen habe spürte ich den Abschied schmerzlich in meinem Körper. Es waren sehr belastende elf Tage für uns alle. Ich kriegte den ganzen Stress und das Leid meiner Familie, durch die Tür mit. Die Trennung hatte sich aber gelohnt: mein Mann und meine Kinder steckten sich nicht an.

Nachdem die akute Infektion vorbei war, hatte ich immer noch eine ausgeprägte Schwäche und Erschöpfung. Ich meldete mich bei einer Bekannten, die damals vor kurzem Covid hatte und auch zwei kleine Kinder hatte. Sie meinte, sie habe sich auch nicht sofort erholt, aber innerhalb eines Monats fühlte sie sich wieder fit. Bei mir hat es sechs Wochen gedauert, bis ich mir meinen normalen Alltag wieder zutraute. Ich bin am ersten Tag eine Stunde Fahrrad gefahren. Ich fühlte mich ein bisschen wackelig und fiel tatsächlich hin und fuhr mit blutigem Knie nach Hause. Am nächsten Tag habe ich wieder angefangen mein Baby auf dem Rücken rumzutragen. Am dritten Tag brach mein normales Leben zusammen. Es kamen plötzliche Anfälle von Erschöpfung, bei denen ich mich sofort auf den Boden legen musste. Mein Körper und Geist waren wie auf einmal ausgeschaltet. Ich hatte telefoniert und auf einmal die Worte meiner Gesprächspartnerin nicht mehr verstanden. Eine Grunderschöpfung war aber immer da. Ich schaffte es nicht mehr zu kochen oder sauber zu machen. Ich habe mein älteres Kind zum Kindergarten gebracht und mich zu Hause sofort auf den Boden gelegt, bis ich mein Baby wieder wickeln musste. Mehr als das nötigste, um die Kinder zu versorgen, habe ich nicht mehr geschafft.

Anfang März 2022 kam die Meldung vom Kindergarten: positiver Covid Fall in der Gruppe meines Kindes. Er hatte leichte Symptome entwickelt und nach ein paar Tagen einen leicht positiven Schnelltest. Ich hatte nach ein paar Tagen auch sehr leichte Symptome- ein paar Tage leichte Muskelschmerzen. Diese klangen schnell ab und ich war erleichtert, wie mild es verlaufen war.

Ein paar Tage später bin ich in einer komplett anderen Realität aufgewacht. Ich konnte kaum sprechen und kaum mehr gehen. Stimmen haben mich schnell überreizt. Das Licht von meinem Handy war schmerzhaft grell. Die Interaktion mit meinen Kindern war fast unmöglich. Mein kleines Kind konnte ich im liegen noch stillen, aber mehr konnte ich für es nicht tun. Die Fragen meines vier jährigen Kindes konnte ich nicht mehr beantworten. Höchstens konnte ich ihm einen Podcast vorspielen, während ich mit Ohrstöpseln und verbunden Augen mit ihm im Bett kuschelte. Mein Mann hat die Verantwortung für die Kinder fast komplett übernehmen müssen. Da er berufstätig war, war dies eine riesige Herausforderung. Wir haben beschlossen zu meinen Schwiegereltern zu fahren, um Hilfe mit der Kinderbetreuung zu erhalten. Wir glaubten, alle jetzt erstmal immun gegen Covid zu sein und keine Gefahr für meine Schwiegereltern darzustellen. Bevor wir April 2022 aufbrechen konnten, kam die nächste Meldung von der Kindergartengruppe: noch ein positiver Covid Fall. Ein Monat nach seiner ersten Infektion ist mein Kind wieder an Covid erkrankt. Die zweite Infektion war heftiger: er hatte Erbrechen, Durchfall, und starke Kopf- und Magenschmerzen. Wir haben uns alle nochmal angesteckt. Erst nach zwei Wochen waren wir alle wieder negativ und konnte die Hilfe von meinen Schwiegereltern annehmen.

Nach der dritten Infektion kamen bei mir neue Symptome dazu- Herzrasen, Benommenheit, Kopfschmerzen und Verwirrung in der aufrechten Position. Ich hatte dann also zusäztlich zu ME/CFS auch POTS- Posturale Orthostatische Tachykardie Syndrom- eine Art Dysautonomie. Als ich sehr krank und schwach mit den Symptomen bei einem Kardiologen ankam, meinte dieser: “Sie sind ein bisschen aufgeregt, ne?” Das war mein erstes Erlebnis mit medizinischem Gaslighting. Später ging ich zu einer Kardiologin, in der Hoffnung, dass eine Frau mich ernster nehmen würde. Das war leider nicht der Fall. Sie meinte erst sehr freundlich, dass ich nur Sport machen müsse, um wieder gesund zu werden. Ich erzählte von meinem Post Exertionelle Malaise (PEM)- eine Verschlimmerung meiner Symptomatik durch Sport und jegliche Überanstrengung. Dann wurde die Ärztin wütend. Sie meinte, ich wäre nur dekonditioniert, solle keinen Rollstuhl mehr benutzen und müsse unbedingt Sport machen. Dann wurde ich rausgeschmissen.

Ich bin mittlerweile über drei Jahren krank, kann nicht mehr das Haus ohne Pflegerollstuhl verlassen und kann mich kaum um mich und um meine Kinder kümmern. Während andere in meinem Alter ihre Karriere aufbauen und Familien gründen, werde ich in die Vergangheit katapultiert. In den schlimmsten Phasen bin ich wie ein Säugling- ich kann mich kaum bewegen, oder denken. Licht und Lärm sind nicht auszuhalten. Ich bin in ein Zeitloch gestürzt und ich kann nur extrem langsam rauskrabbeln. Manchmal geht es mir besser. Ich stehe auf, gehe und falle wieder hin. Jeder Sturz ist eine riesige Enttäuschung. Ich habe plötzlich sehr viel von der kostbarsten Ressource unsere Epoche – Zeit. Und diese Zeit quält mich, weil ich sie nicht so nutzen kann, wie ich will. Ich kann nur existieren. Ich fühle mich nutzlos und wertlos. Ich will die Zeit vertreiben, bis es mir besser geht. Aber wird es mir besser gehen? Das bleibt unklar.

Obwohl ich nicht allein lebe, lebe ich sehr in Einsamkeit. Das Familienleben ist zu laut, zu stressig, zu anstrengend. Ich kriege alles durch die Schlafzimmertür mit. Es ist eine Quälerei- zu krank teilzunehmen und gleichzeitig so einsam.

Mein Onkel hat mir Bilder von Irland geschickt. Ich habe ein Hörbuch übers klettern und in Höhlen kriechen gehört. Ich habe eine besondere Trauer, um meine ungewisse Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich je wieder reisen können werde, oder einfach in den Wald neben meiner Wohnung spazieren gehen kann. Ich kann nur 30 Sekunden gehen, bevor ich mich hinhocken muss.

Es war schon viel schlimmer und trotzdem weiß ich, dass es noch schlimmer werden kann. Alle Aktivitäten waren undenkbar. Ich konnte nur atmen. Es war auch eine Erleichterung, keine Gedanken zu haben. So stelle ich mir das Leben im Mutterleib vor. Aber da ist noch das ganze Leben vor einem. Ich habe das Gefühl, dass was das Leben ausmacht, ist schon hinter mir und das, was noch kommt ist nur existieren. Meine Vorstellungen und Träume für die Zukunft sind jetzt unrealistisch.

Ich lebe in einem Zwischenstadium. Meine Energie reicht meistens nur fast aus, für was ich machen möchte. Ich könnte fast Musik hören aber mein Kopf ist zu vernebelt. Ich könnte fast etwas zeichnen aber meine Gelenke tun ein bisschen zu sehr weh. Ich könnte fast einen Antrag ausfüllen. Ich könnte fast ein Puzzle mit meinem Kind machen. Ich könnte fast ein Buch lesen. Ich könnte fast leben.

 

Berlin, Juni 2025